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    Haruki Murakami Kafka am Strand Roman Aus dem Japanischen von Ursula Gr?fe btb V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 3 Buch Kafka Tamura rei?t an seinem 15. Geburtstag von zu Hause aus. Eine schicksalhafte Prophezeiung lenkt Kafkas laby- rinthischen Weg und führt ihn in eine fremde Stadt, wo er Saeki, die geheimnisvolle Leiterin einer kleinen Bibliothek, trifft. Kafka lauscht ihren Geschichten und verliebt sich unsterblich in diese faszinierende, um einige Jahre ?ltere Frau. Die Wege der beiden kreuzt ein alter Mann namens Nakata, der die Sprache der Katzen versteht und der Spuren folgt, die in eine andere Welt weisen. Ist das alles nur ein Traum? Wo endet diese Reise voller r?tselhafter Begegnungen? Autor Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte über l?ngere Zeit in Europa und in den USA. Murakami ist der international gefeierte und mit den h?chsten japanischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erz?hlungen. Er hat die Werke von Raymond Chandler, John Irving, Truman Capote und Raymond Carver ins Japanische übersetzt. Haruki Murakami bei btb Gef?hrliche Geliebte. Roman (71795) Mister Aufziehvogel. Roman (72668) Naokos L?cheln. Roman (73050) Sputnik Sweetheart. Roman (73154) Tanz mit dem Schafsmann. Roman (73074) Untergrundkrieg. Der Anschlag von Tokyo (73075) Nach dem Beben (73276) Wilde Schafsjagd. Roman (73474) Afterdark. Roman (73564) Jay Rubin: Muraki und die Melodie des Lebens (73383) V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 2 Der Junge namens Kr?he ?An Geld bist du jetzt auch irgendwie gekommen, ja??, sagt der Junge namens Kr?he in seiner üblichen, etwas schwerf?lligen Sprechweise, als w?re er gerade aus dem Tiefschlaf erwacht und als funktionierten seine Sprechmuskeln noch nicht richtig. Aber das ist reine Attitüde, in Wirklichkeit ist er hellwach. Wie immer. Ich nicke. ?Wie viel ungef?hr?? Ich überschlage die Summe noch einmal im Kopf. ?Ungef?hr 400 000 in bar. Au?erdem kann ich noch ein bisschen mit der Karte vom Bankkonto ziehen. Natürlich wird das nicht ewig reichen, aber für den Anfang geht's doch, oder?? ?Nicht schlecht?, sagt Kr?he. ?Für den Anfang …? Ich nicke. ?Aber das ist doch nicht das Geld, das dir der Weihnachtsmann letztes Jahr gebracht hat, oder?? ?Nein?, sage ich. Kr?he verzieht ironisch die Lippen und sieht sich um. ?Es stammt aus irgendjemandes Schublade hier – k?nnte das sein?? Ich gebe keine Antwort. Natürlich wei? er ganz genau, woher das Geld kommt. Er braucht gar nicht so drumherum zu reden. Das tut er nur, um mich aufzuziehen. ?Schon gut?, sagt Kr?he. ?Du brauchst ja Geld. Dringend. Irgend- wie musstest du es ja in die Finger bekommen. Leihen, erschwindeln, stehlen …egal wie. Es geh?rt doch sowieso deinem Vater. Für den An- fang wirst du schon zurechtkommen. Aber was gedenkst du zu tun, wenn die 400 000 aufgebraucht sind? Geld w?chst nicht von alleine im Portemonnaie nach wie Pilze im Wald. Du musst essen und irgend- wo schlafen. Irgendwann ist es dann alle.? 7 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 7 ?Das überlege ich mir, wenn es so weit ist?, sage ich. ?Das überlege ich mir, wenn es so weit ist?, ?fft Kr?he mich nach und breitet die Handfl?chen aus, wie um das Gewicht meiner Worte zu er- messen. Ich nicke. ?Zum Beispiel Arbeit suchen oder was?? ?Vielleicht.? Kr?he schüttelt den Kopf. ?Dazu musst du das Leben erst mal bes- ser kennen. Wie soll denn ein fünfzehnj?hriger Junge in einer fremden Gegend einen Job finden? Du hast ja nicht mal die Schule abgeschlos- sen. Wer wird so jemanden schon einstellen?? Ich err?te ein bisschen. Ich werde immer gleich rot. ?Ist ja schon gut?, sagt Kr?he. ?Au?erdem bringt die ganze Schwarzseherei nichts, wenn man noch nicht mal angefangen hat. Du hast dich entschieden, jetzt musst du deinen Entschluss in die Tat um- setzen. Schlie?lich ist es dein Leben. Konkret bleibt dir nichts anderes übrig, als das zu tun, was du vorhast.? Genau, immerhin ist das mein Leben. ?Aber vor allem musst du jetzt stark werden.? ?Ich gebe mir Mühe.? ?Stimmt?, sagt Kr?he. ?In den letzten Jahren bist du ganz sch?n kr?ftig geworden. Das kann ich nicht leugnen.? Ich nicke. ?Allerdings bist du erst fünfzehn?, sagt Kr?he. ?Dein Leben hat, gelinde ausgedrückt, gerade erst begonnen. Die Welt ist voll von Din- gen, denen du noch nie begegnet bist. Von denen du überhaupt noch keine Vorstellung hast.? Wie üblich sitzen wir nebeneinander auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Vaters. Kr?he sch?tzt diesen Raum sehr. Er liebt die kleinen Gegenst?nde, die es hier gibt. Gerade spielt er mit ei- nem gl?sernen Briefbeschwerer, der die Form einer Biene hat. Natür- lich l?sst er sich nicht blicken, wenn mein Vater zu Hause ist. 8 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 8 ?Eins steht jedenfalls fest?, sage ich, ?ich muss hier raus. Daran ist nicht zu rütteln.? ?Mag sein?, pflichtet Kr?he mir bei. Er legt den Briefbeschwerer auf den Tisch und verschr?nkt die H?nde hinter dem Kopf. ?Aber das ist keine L?sung für alles. Ich will deinen Entschluss nicht ins Wanken bringen, aber ich wei? nicht, ob du dem Ganzen wirklich entkommen kannst, auch wenn du noch so weit f?hrst. Du solltest dir nicht allzu viel von der Entfernung versprechen.? Ich denke über die Entfernung nach. Kr?he drückt sich seufzend die Fingerkuppen auf beide Augenlider. Dann spricht er mich aus dem Dunkel seiner geschlossenen Augen an. ?Spielen wir unser Spiel?? ?Einverstanden.? Ich schlie?e ebenfalls die Augen und atme lang- sam und tief ein. ?Also gut, stell dir einen grausamen Sandsturm vor?, sagt er. ?Und vergiss alles andere.? Wie gehei?en, stelle ich mir einen tobenden Sandsturm vor. Und vergesse alles andere. Sogar mich selbst. Ich werde v?llig leer. Sofort taucht er vor mir auf. Wie schon so oft erleben Kr?he und ich so etwas gemeinsam auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Va- ters. Hin und wieder hat das Schicksal ?hnlichkeit mit einem ?rtlichen Sandsturm, der unabl?ssig die Richtung wechselt, erkl?rt mir Kr?he. Hin und wieder hat das Schicksal ?hnlichkeit mit einem ?rtlichen Sandsturm, der unabl?ssig die Richtung wech- selt. Sobald du deine Laufrichtung ?nderst, um ihm aus- zuweichen, ?ndert auch der Sturm seine Richtung, um dir zu folgen. Wieder ?nderst du die Richtung. Und wieder schl?gt der Sturm den gleichen Weg ein. Dies wiederholt sich Mal für Mal, und es ist, als tanztest du in der D?m- merung einen wilden Tanz mit dem Totengott. Dieser 9 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 9 Sturm ist jedoch kein beziehungsloses Etwas, das irgend- woher aus der Ferne heraufzieht. Eigentlich bist der Sandsturm du selbst. Etwas in dir. Also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden und, so gut es geht, einen Fuss vor den anderen zu setzen, Augen und Ohren fest zu verschliessen, damit kein Sand eindringt, und dich Schritt für Schritt herauszuarbeiten. Viel- leicht scheint dir auf diesem Weg weder Sonne noch Mond, vielleicht existiert keine Richtung und nicht ein- mal die Zeit. Nur winzige, weisse Sandk?rner, wie Kno- chenmehl, wirbeln bis hoch hinauf in den Himmel. So sieht der Sandsturm aus, den ich mir vorstelle. Ich stelle mir diesen Sandsturm vor. Ein bleiche Windhose steigt in den Himmel wie ein dickes gerades Seil. Mit beiden H?nden halte ich mir Augen und Ohren zu, damit die winzigen Sandk?rner nicht in meinen K?rper eindringen. Der Sandsturm rast auf mich zu, sodass ich den Luftdruck schon von weitem auf meiner Haut spüren kann. Schon droht er, mich zu verschlingen. Nach einer Weile legt Kr?he sacht seine Hand auf meine Schulter. Der Sandsturm verebbt, doch ich halte die Augen weiter geschlossen. ?Von nun an musst du der st?rkste fünfzehnj?hrige Junge auf der Welt werden. Komme, was wolle. Eine andere ?berlebenschance hast du nicht. Du musst begreifen, was St?rke wirklich bedeutet. Verstehst du?? Ich antworte nicht. Am liebsten würde ich, seine Hand auf meiner Schulter, behaglich einschlafen. Ich spüre einen sanften Flügelschlag an meinem Ohr. ?Von nun an wirst du zum st?rksten Fünfzehnj?hrigen der Welt?, sagt Kr?he mir noch einmal leise ins Ohr, w?hrend ich schon in den Schlaf hinübergleite. Doch seine Worte sind mir wie mit dunkelblau- en Zeichen ins Herz t?towiert. 10 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 10 Natürlich kommst du durch. Durch diesen tobenden Sand- sturm. Diesen metaphysischen, symbolischen Sandsturm. Doch auch wenn er metaphysisch und symbolisch ist, wird er dir wie mit tausend Rasierklingen das Fleisch aufschlitzen. Das Blut vieler Menschen wird fliessen, auch dein eigenes. Warmes, rotes Blut. Du wirst dieses Blut mit beiden H?nden auffangen. Es ist dein Blut und das der vielen. Und wenn der Sandsturm vorüber ist, wirst du kaum be- greifen k?nnen, wie du ihn durchquert und überlebt hast. Du wirst auch nicht sicher sein, ob er wirklich vorüber ist. Nur eins ist sicher. Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt, ist nicht mehr derjenige, der durch ihn hindurch- gegangen ist. Darin liegt der Sinn eines Sandsturms. Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben. Um alles der Reihe nach zu erz?hlen, brauche ich wahrscheinlich eine Woche. Auch nur die wichtigsten Punkte aufzuführen, würde un- gef?hr genauso lange dauern. Als mein fünfzehnter Geburts- tag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bi- bliothek zu leben. Das klingt vielleicht wie der Beginn eines M?r- chens. Aber es ist kein M?rchen. In keinem Sinne. 11 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 11 1 Als ich fortgehe, nehme ich nicht nur ohne zu fragen Geld aus dem Arbeitszimmer meines Vaters, sondern auch ein kleines goldenes Feu- erzeug (dessen Design und Gewicht mir gefallen) und ein Klappmes- ser mit einer scharfen Schneide. Es dient zum H?uten von Wild und liegt gut und schwer in der Hand. Die Klinge ist zw?lf Zentimeter lang. Vielleicht ein Souvenir von einer Auslandsreise. Au?erdem neh- me ich noch eine starke Taschenlampe aus der Schreibtischschublade. Und seine Sonnenbrille brauche ich, um mein Alter zu kaschieren. Eine dunkelblaue Rebo-Sonnenbrille. Ich überlege, ob ich auch die geliebte Sea-Oyster-Rolex meines Va- ters mitnehmen soll, entscheide mich aber am Ende dagegen. Die Sch?nheit der Uhr als Maschine verlockt mich, aber ein so kostspieli- ges Ding kann unn?tige Aufmerksamkeit erregen. Vom praktischen Standpunkt genügt die Plastik-Casio mit Stoppuhr und Wecker, die ich st?ndig am Arm trage. Sie ist auch leichter zu bedienen. Ich lege die Rolex wieder in die Schublade zurück. Au?erdem nehme ich ein Kinderfoto von mir und meiner ?lteren Schwester mit, das sich ebenfalls in der Schreibtischschublade befin- det. Wir beide stehen an einem Strand und lachen vergnügt. Meine Schwester schaut zur Seite, und die eine H?lfte ihres Gesichts liegt im Schatten. Deshalb erscheint es wie in der Mitte geteilt. Wie eine grie- chische Theatermaske, von der ich ein Bild in einem Schulbuch ge- sehen habe, tr?gt ihr Gesicht zwei Bedeutungen. Licht und Schatten. Hoffnung und Verzweiflung. Lachen und Trauer. Vertrauen und Ein- samkeit. Ich hingegen blicke unbefangen direkt in die Kamera. Au?er uns beiden ist an dem Strand niemand zu sehen. Wir haben Schwimm- kleidung an, meine Schwester einen rot geblümten Badeanzug und ich eine sch?bige, blaue, ausgeleierte Badehose. Ich halte etwas in der Hand, 12 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 12 das aussieht wie ein Plastikstock. Der wei?e Schaum der Wellen um- spült unsere Fü?e. Wer wohl dieses Foto wo und wann aufgenommen hat? Warum mache ich ein so vergnügtes Gesicht? Warum hat mein Vater gerade dieses Foto aufbewahrt? R?tsel über R?tsel. Ich bin wahrscheinlich drei und meine Schwester ungef?hr neun. Offensichtlich haben wir uns sehr gut verstanden. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an einen Familienausflug ans Meer. ?berhaupt erinnere ich mich nicht daran, jemals irgendwohin gefahren zu sein. Keinesfalls will ich meinem Vater die alte Fotografie lassen, also stecke ich sie in meine Brieftasche. Von meiner Mutter gibt es keine Aufnahmen. Wahrscheinlich hat mein Va- ter sie alle weggeworfen. Nach kurzem Z?gern beschlie?e ich, auch das Mobiltelefon mit- zunehmen. Wahrscheinlich wird mein Vater, wenn er sein Fehlen be- merkt, den Vertrag mit der Telefongesellschaft sowieso gleich kündi- gen. Es w?re dann zu nichts mehr nütze. Dennoch packe ich es in meinen Rucksack. Das Ladeger?t nehme ich auch mit. Immerhin ist das Zeug leicht. Wenn ich merke, dass das Handy tot ist, kann ich es immer noch fortwerfen. Ich will nur das Allernotwendigste mitnehmen. Am schwierigsten ist die Kleiderfrage. Wie viel Unterw?sche werde ich brauchen? Wie viele Pullover? Hemden, Hosen, Handschuhe, Schal, Shorts, einen Man- tel? Nachdem ich einmal angefangen habe, darüber nachzudenken, wird die Liste immer l?nger. Eins ist jedoch klar: Schleppe ich zu viel mit mir herum, wird man mir den Ausrei?er gleich ansehen. So kann ich nicht in einer fremden Gegend herumlaufen, ohne sofort Auf- merksamkeit auf mich zu ziehen. Dann werde ich von der Polizei auf- gegriffen und postwendend nach Hause zurückgeschickt. Oder ich falle irgendwelchen Finsterlingen in die H?nde. Lieber nicht in eine kalte Gegend fahren, ist meine n?chste Schlussfol- gerung. Ganz einfach. Also begebe ich mich eben in w?rmere Gefilde. 13 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 13 Dann brauche ich auch keinen Mantel. Handschuhe auch nicht. Wenn ich mich nicht vor K?lte schützen muss, reduziert sich die Menge der notwendigen Kleidungsstücke um die H?lfte. Ich w?hle m?glichst leichte, dünne Sachen, die sich problemlos waschen lassen und schnell trocknen, und stopfe sie klein gefaltet in den Rucksack. Au?er den Sa- chen zum Anziehen nehme ich meinen Drei-Jahreszeiten-Schlafsack mit, den ich so fest zusammenrolle, dass keine Luft mehr darin ist, ei- nen einfachen Waschbeutel, ein Regencape, Heft und Kugelschreiber, einen Mini-Discman von Sony, mit dem man aufnehmen kann, zehn CDs (Musik brauche ich unbedingt) und einen Extrasatz aufladbare Batterien. Auf einen Campingkocher verzichte ich. Zu schwer und zu sperrig. Lebensmittel kann ich im Supermarkt kaufen. Es dauert eine Weile, bis die Liste der Dinge, die ich mitnehmen werde, auf eine an- nehmbare L?nge geschrumpft ist. Ein ums andere Mal schreibe ich Dinge dazu, blo? um sie wieder zu streichen. Mein fünfzehnter Geburtstag erscheint mir als ein passender Zeit- punkt für meine Flucht. Davor ist es zu früh, danach vielleicht zu sp?t. In den zwei Jahren, die ich bis jetzt auf der Mittelschule bin, habe ich intensiv für diesen Tag trainiert. Seit der Grundschule bin ich in einem Judo-Verein, den ich auch als Mittelschüler weiter besuche. An den sportlichen Aktivit?ten in meiner Schule nehme ich allerdings nicht teil. Wenn ich Zeit habe, drehe ich einsame Runden auf dem Sportplatz, schwimme oder treibe Kraftsport an den Ger?ten im kom- munalen Turnverein. Die jungen Trainer dort zeigen mir, wie man rich- tig dehnt und an den Ger?ten arbeitet. Wie kann ich die Leistung aller meiner Muskeln gleichm??ig steigern? Welche Muskeln benutze ich im t?glichen Leben und welche kann ich nur durch Kraftsport aufbau- en? Was ist die korrekte Haltung auf den B?nken? Glücklicherweise bin ich von Natur aus gro?, und dank meines t?glichen Trainings habe ich breite Schultern und einen muskul?sen Brustkorb entwickelt. 14 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 14 Fremde würden mich mittlerweile wahrscheinlich auf mindestens sieb- zehn sch?tzen. Mit der ?u?eren Erscheinung eines Fünfzehnj?hrigen bek?me ich garantiert überall Probleme. Au?er mit den Trainern im Sportverein und der Haushaltshilfe, die jeden zweiten Tag zu uns kommt und ein paar beil?ufige Worte mit mir wechselt, sowie bei ein paar unvermeidlichen Gespr?chen in der Schule rede ich mit fast niemandem. Meinen Vater bekomme ich seit eh und je nur selten zu Gesicht. Obwohl wir in einem Haus le- ben, haben wir einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus. Mein Vater ist fast den ganzen Tag in seinem Atelier. Unn?tig zu erw?h- nen, dass ich stets darauf bedacht bin, ihm so wenig wie m?glich zu begegnen. Die Schule, auf die ich gehe, ist eine Privatschule, die zum Gro?teil von Kindern aus besseren oder zumindest wohlhabenden Familien be- sucht wird. Solange man keinen allzu gro?en Unsinn fabriziert, kann man sie bis zum Abitur besuchen. Alle dort haben gerade Z?hne, sind adrett gekleidet und reden langweiliges Zeug. Natürlich bin ich in meiner Klasse bei keinem beliebt. Um mich herum habe ich eine hohe Mauer gezogen, hinter der ich mich verschanze. Anderen verweigere ich jeden Zutritt. So einen mag natürlich niemand. Meine Mitschüler meiden mich und betrachten mich mit Argwohn. Oder sie finden mich unangenehm oder fürchten sich vielleicht sogar ab und zu vor mir. Aber eigentlich bin ich fast dankbar, wenn niemand mich beachtet. Denn das, was ich allein tun muss, türmt sich vor mir auf wie ein Berg. Meine Freizeit verbringe ich in der Schulbibliothek, wo ich ein Buch nach dem anderen verschlinge. Dem Unterricht hingegen folge ich mit gro?em Eifer, denn das hat mir Kr?he besonders ans Herz gelegt. Wahrscheinlich bist du der Ansicht, dass das Wissen und die F?higkeiten, die an der Mittelschule gelehrt wer- den, dir für dein gegenw?rtiges Leben nichts nützen. 15 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 15 Und dass die meisten deiner Lehrer Volltrottel sind. Kann ich verstehen. Du hast sogar Recht, aber: Du wirst von zu Hause fortgehen. Deshalb solltest du, solange sich dir noch die Gelegenheit bietet, sicherheitshalber so viel Stoff abspeichern, wie du kannst, ob es dir nun ge- f?llt oder nicht. Wie L?schpapier aufsaugen. Was du da- von beh?ltst und was du verwirfst, kannst du sp?ter im- mer noch entscheiden. Ich folge seinem Rat. (In der Regel pflege ich Kr?hes Ratschl?gen zu gehorchen.) Ich konzentriere mich, spitze die Ohren, und mein Ge- hirn saugt wie ein Schwamm alles auf, was im Unterricht gesagt wird. Dadurch gelingt es mir, in der kurzen Zeit der Schulstunden alles zu begreifen, sodass meine Leistungen in den Klassenarbeiten stets zu den besten geh?ren, obwohl ich au?erhalb der Schule so gut wie nie lerne. Meine Muskeln werden hart wie Stahl, und ich werde immer wort- karger. Ich versuche, mein Mienenspiel beherrschen zu lernen, damit meine Lehrer und Mitschüler mir keine meiner Gefühlsregungen und Gedanken vom Gesicht ablesen k?nnen. Bald werde ich die unbarm- herzige, grausame Welt der Erwachsenen betreten und dort ganz auf mich gestellt überleben müssen. Deshalb muss ich z?her und st?rker werden als alle anderen. Im Spiegel sehe ich, dass meine Augen kalt gl?nzen wie die einer Eidechse und dass mein Gesichtsausdruck immer versteinerter und unnahbarer wird. Auch wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Oder gel?chelt. Nicht einmal für mich selbst. Doch nicht immer gelingt es mir, meine stumme Isolation zu ver- teidigen. Der hohe Schutzwall, der mich umgibt, kommt leicht zum Einsturz. Das geschieht nicht oft, aber doch hin und wieder. Unerwar- tet f?llt die Mauer, sodass ich der Welt nackt gegenüberstehe. In sol- 16 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 16 chen F?llen überkommt mich Verwirrung. Grauenhafte Verwirrung. Und dazu kommt noch die Prophezeiung. St?ndig lauert sie in mir wie ein dunkles, trübes Gew?sser. St?ndig lauert die Prophezeiung wie ein dunkles, trübes Gew?sser. Noch lauert sie heimlich an irgendeiner unbekannten Stelle. Aber wenn die Zeit kommt, wird sie lautlos über- fliessen, deine Zellen eine nach der anderen kalt durch- dringen, und du wirst in dem Gefühl, gleich in dieser grausamen Flut zu ertrinken, nach Luft ringen. An einem Luftschacht an der Decke wirst du kleben und in Panik nach der frischen Luft im Freien schnappen. Aber die Luft, die du einsaugst, ist heiss und trocken und ver- brennt dir die Kehle mit ihrer Hitze. Mit vereinten Kr?f- ten fallen die Extreme Wasser und Trockenheit, K?lte und Hitze gleichzeitig über dich her. Auf der ganzen weiten Welt findet sich nirgends ein Ort, der dir Zuflucht bieten kann – obwohl schon das kleinste Eckchen genügen würde. Suchst du die Stimme der Prophezeiung, herrscht nur tiefes Schweigen. Doch kaum suchst du das Schweigen, dr?hnt sie unabl?ssig. Als h?tte jemand auf einen geheimen, in deinem Kopf ver- steckten Knopf gedrückt. Dein Herz gleicht einem grossen, von langem Regen angeschwollenen Fluss. Alle Orientierungspunkte sind restlos in seinen Fluten verschwunden, vielleicht schon an irgendeinen dunklen Ort davongeschwemmt. Immerfort prasselt der Regen auf den Fluss. Und sooft du in den Nachrichten eine überflutete Landschaft siehst, denkst du: Ja, genauso sieht es in meinem Herzen aus. 17 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 17 Bevor ich von zu Hause fortlaufe, wasche ich mir Gesicht und H?nde mit Seife. Ich schneide mir die N?gel, s?ubere mir die Ohren und put- ze mir die Z?hne. Ich nehme mir Zeit für eine m?glichst gründliche Reinigung. Sauberkeit ist manchmal wichtiger als alles andere. An- schlie?end betrachte ich mein Gesicht aufmerksam im Badezimmer- spiegel. Das Gesicht, das mein Vater und meine Mutter – wenngleich ich nicht die geringste Erinnerung an meine Mutter habe – mir ver- erbt haben. Ich kann jeden Ausdruck daraus verbannen, das Leuchten in meinen Augen abt?ten, Muskeln aufbauen, soviel ich will, das Ge- sicht selbst kann ich nicht ver?ndern. Sosehr ich es mir auch wünsche, die dunklen, langen Brauen mit der tiefen Kerbe dazwischen, die ich von meinem Vater habe, kann ich nicht loswerden. Wenn ich wollte, k?nnte ich meinen Vater t?ten (mit der Kraft, die ich inzwischen be- sitze, w?re das keine Schwierigkeit) und die Mutter aus meinem Ge- d?chtnis streichen, aber ihre Gene in mir kann ich nicht l?schen. So wenig wie ich mich selbst aus mir vertreiben kann. Und dann ist da noch die Prophezeiung. Wie ein innerer Mecha- nismus ist sie mir einprogrammiert. Mir einprogrammiert wie ein Mechanismus. Ich mache das Licht aus und verlasse das Badezimmer. Im Haus herrscht eine schwere, drückende Stille. Sie besteht aus dem Flüstern von Menschen, die nicht existieren, dem Atem von Menschen, die nicht leben. Ich sehe mich um, bleibe stehen und hole tief Luft. Die Zeiger der Uhr stehen auf kurz nach drei Uhr nachmit- tags. Sie wirken schrecklich kalt und distanziert. Unparteiisch zwar, aber eben doch nicht auf meiner Seite. Allm?hlich wird es Zeit, diesen Ort hinter mir zu lassen. Ich schultere meinen kleinen Rucksack. Ob- wohl ich ihn immer wieder probeweise aufgesetzt habe, fühlt er sich auf einmal viel schwerer an als vorher. Als Reiseziel habe ich Shikoku gew?hlt. Nicht, dass es einen be- stimmten Grund für mich gibt, nach Shikoku zu fahren. Aber als ich den Atlas aufschlage, habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich 18 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 18 dorthin wenden sollte. Je ?fter ich darauf schaue, umso mehr zieht die Gegend mich an. Shikoku liegt viel südlicher als Tokyo, ist von Hon- do durch das Meer getrennt und hat ein mildes Klima. Ich war noch nie auf Shikoku und habe dort weder Bekannte noch Verwandte. Schon deshalb wird es unm?glich sein, mich dort aufzuspüren, selbst wenn jemand sich tats?chlich auf die Suche nach mir begeben sollte (womit ich ohnehin nicht rechne). Am Schalter kaufe ich mir eine Fahrkarte für einen reservierten Platz und steige in den Nachtbus – die billigste M?glichkeit, nach Takamat- su zu kommen. Das Ticket kostet etwas über 10 000 Yen. Niemand nimmt von mir Notiz. Keiner fragt nach meinem Alter oder schaut sich mein Gesicht an. Mit dienstlicher Miene kontrolliert der Fahrer mein Ticket, mehr nicht. Der Bus ist nur zu etwa einem Drittel besetzt. Da die Mehrzahl der Passagiere wie ich allein unterwegs ist, herrscht im Bus eine etwas unnatürliche Stille. Die Reise nach Takamatsu ist ziemlich weit. Dem Fahrplan zufolge dauert sie ungef?hr zehn Stunden. Ankunft ist in den frühen Morgenstunden des n?chsten Tages. Aber Zeit spielt so- wieso keine Rolle für mich. Zeit habe ich jetzt, soviel ich will. Als der Bus kurz nach acht Uhr abf?hrt, lehne ich mich in meinen Sitz zurück und schlafe auf der Stelle ein, als habe man mir die Batterie herausge- nommen. Vor Mitternacht beginnt es pl?tzlich stark zu regnen. Von Zeit zu Zeit wache ich auf und schaue zwischen den billigen Vorh?ngen hin- durch auf die n?chtliche Schnellstra?e. Der heftig gegen die Scheiben prasselnde Regen l?sst das Licht der Stra?enlaternen verschwimmen, die sich in regelm??iger Abfolge am Rand entlangziehen, soweit das Auge reicht. Ein neues Licht wird eingeholt, wird schon im n?chsten Augenblick zum alten Licht, um dann unwiderruflich auf der Strecke zu bleiben. Ehe ich mich versehe, ist es zw?lf Uhr vorbei. Automatisch, wie von hinten angeschoben, ist mein fünfzehnter Geburtstag da. 19 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 19 ?Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag?, sagt Kr?he. ?Danke.? Wie ein Schatten verfolgt mich die Prophezeiung. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass meine Mauer nicht eingestürzt ist, ziehe ich den Vorhang zu und schlafe weiter. 20 V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 20 Die japanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel ?Umibe No Kafuka? bei Shinchosha, Tokyo. 6. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe April 2006, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright ? der Originalausgabe 2002 by Haruki Murakami Copyright ? der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by DuMont Literatur und Kunst Verlag, K?ln Umschlaggestaltung: Design Team München, Umschlagfoto: Zefa Druck und Einband: Clausen & Bosse, Leck NB · Herstellung: BB Printed in Germany ISBN 978-3-442-73323-1 www.btb-verlag.de Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Munken Print für Taschenbücher aus dem btb Verlag liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden. V i v a 4.0D Cyan Magenta Yellow Black CM CY MY CMY 118 mm x 187 mm 978-3-442-73323-1; 09.01.2008 8:48 Uhr; Seite: 4 UNVERK?UFLICHE LESEPROBE Haruki Murakami Kafka am Strand Roman Taschenbuch, Broschur, 640 Seiten, 11,8 x 18,7 cm ISBN: 978-3-442-73323-1 btb Erscheinungstermin: M?rz 2006 Der 15-j?hrige Kafka Tamura rei?t von zu Hause aus und flüchtet vor einer düsteren Prophezeiung seines Vaters auf die Insel Shikoku. Seine abenteuerliche Reise führt ihn in eine fremde Stadt, wo er der faszinierenden Bibliotheksleiterin Saeki begegnet und ihr verf?llt. Er macht die Bekanntschaft mit einem geheimnisvollen alten Mann, der mit Katzen sprechen kann, und gleitet ab in eine fremde, seltsame Welt. Was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Wo endet diese Reise voller r?tselhafter Begegnungen und labyrinthischer Wege?
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